Donnerstag, 19. Mai 2011

Die Bettlergasse

"Der erstickende Laut des sterbenden weckte ihn aus seinem ohnehin leichten Schlaf. Fast instinktiv hielt er die Luft an und lauschte auf weitere Geräusche. Sehen konnte er in der Dunkelheit nur wenig, zumal er sich, wie jede Nacht mit dem Unrat und Müll der Gasse bedeckt hatte, um vor Halsabschneidern oder schlimmeren besser geschützt zu sein. Jetzt hinderte ihn das Stück eines alten Teppichs daran zu erkennen, was nur einen Meter oder zwei von ihm entfernt vor sich ging. Er überlegt kurz, ob er es wagen sollte seinen Arm zu bewegen, um sich ein bisschen Sicht zu verschaffen, entschied sich dann aber dagegen, als von der Gasse ein hässliches Schmatzen zu ihm herüber drang. Er vernahm das reißende Geräusche, wie als wenn nasses Leinen aufgerissen wurde, begleitet von den letzten gurgelnden Lauten eines Menschen, dessen Mund und Lungen sich mit Blut füllten. Danach wurde die Stille nur noch durch widerliches Rascheln und Schmatzen unterbrochen.

Irgendwo in der Entfernung schrie ein Säugling und brachte seine Eltern um den Schlaf.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der er zu den Göttern betete, dass er nicht entdeckt werden würde, vernahm er das raue und laute Palaver zweier Männer am Eingang zur Gasse. Sie waren offenbar betrunken. In diesem Moment verstummte auch das grässliche Schmatzen neben ihm und er vernahm stattdessen ein Schnüffeln, als wenn ein Tier Witterung aufnimmt. Die Männer kamen jetzt die Gasse hinunter. Das Schnüffeln erstarb und jetzt vernahm er hektisches Kratzen, wie von Krallen, an der Häuserwand neben ihm. Der Mörtel bröckelte dabei aus den Fugen und krümelte ihm auf den Kopf in sein Versteck.

Reflexartig blickte er auf, um zu sehen was dort die Wand empor kletterte. Was er sah ließ seinen Atem stocken und verhinderte, dass er Aufschrie. Er spürte, wie ihm bittere Galle den Rachen hinauf stieg. Er war wie erstarrt und sein Atmen ging stoßartig, während er sich bemühte seinen Mageninhalt bei sich zu behalten.
Einen Moment konnte er noch das sich entfernende Geräusch des Kratzens auf den Dachschindeln über ihm verfolgen, als die Stimmen der Männer ihn ablenkten. Sie waren jetzt sehr nah. Er wollte weg, nur noch weg aus der Gasse, weg von dem süßlichen Gestank des Blutes der mittlerweile in seine Nase drang und weg von dem Schauplatz dieses Verbrechens, dessen er ohne Zweifel gerade Zeuge geworden war.
Ohne auf seinen Verstand zu hören, der ihm riet liegen zu bleiben bis alles vorbei war, sprang er auf und hastete nach rechts die Straße entlang. Genau auf die beiden Männer zu. Er rannte an ihnen vorbei, strauchelte dabei und taumelte gegen die Häuserwand, stieß sich sofort wieder ab und rannte zum Ende der Gasse. Die beiden Männer verfluchten ihn, als sie sich von ihrem ersten Schrecken erholt hatten und stießen dabei wüste Verwünschungen aus.

Gerade als er um die Ecke war und in die nächste Quergasse einbog hörte er den entsetzten Aufschrei der beiden – sie hatten den Leichnam gefunden…und er rannte!"

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